Anna / Helfersyndrom

Anna / Helfersyndrom

Gute Mädchen kommen in den Himmel

Dr. Heike S. Buhl

Eine Fallgeschichte

In meiner körpertherapeutischen Praxis begegne ich immer wieder Menschen, die sich für andere aufopfern. Ob sie es merken oder nicht, gehen sie damit oft über ihre eigenen inneren Grenzen und powern sich auf Dauer aus. Sie helfen anderen und bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden. Natürlich möchte jeder ein guter Mensch sein! Aber wie weit soll man bei der Nächstenliebe gehen? Wo fängt die Selbstaufgabe an, wann sind dabei die eigenen Kräfte überschritten?

Zu diesem Thema möchte ich die Fallgeschichte einer Klientin vorstellen, die ich zwei Jahre lang in ihrem inneren Prozess begleitete.

Die Vorgeschichte
Mitte 1994 kommt Anna zu mir in die Praxis. Sie ist Anfang 50 und arbeitet in der Altenpflege. Die von ihr geschilderten Beschwerden sind hauptsächlich psychischer Natur. Sie möchte insgesamt ruhiger und ausgeglichener werden, mehr „mit den Beinen auf den Boden kommen“ und lernen, anderen besser zu helfen. Letzteres scheint sie besonders zu beschäftigen. Sie wirkt wie die typische Vertreterin des „Helfersyndroms“ – Menschen, die sich für andere aufopfern, die eigenen Grenzen übersehen und dabei Gefahr laufen, sich irgendwann völlig erschöpft und ausgebrannt zu fühlen.

Wenn Anna davon erzählt, wie sie anderen Menschen hilft, blüht sie regelrecht auf. Es erscheint fast so, als wolle sie die Therapie hauptsächlich machen, um noch mehr Kraft für andere zu haben. Für den Einwand, dass sie doch auch mit den vorhandenen Kräften besser haushalten lernen könnte, hat sie kein offenes Ohr. Anna hat außer den Kranken und Hilfsbedürftigen, um die sie sich kümmert, kaum soziale Kontakte. Für andere Menschen reibt sie sich auf und ist enttäuscht, wenn diese ihre Hilfe nicht annehmen können. Seit vielen Jahren hat sie eine lose Beziehung zu einem Mann. Den Wunsch nach einer eigenen Familie hat sie nicht.

Anna berichtet von einer schweren Kindheit. Sie wuchs in einem Übersiedlerlager als drittes von sechs Kindern auf. Eine der älteren Schwestern starb früh. Als Anna neun Jahre alt war, starb auch ihr Vater. Die Mutter war mit der Erziehung der Kinder offenbar überfordert, sie wurde stark depressiv und äußerte immer wieder, die Kinder seien doch „ohne sie besser dran“. Anna, selber noch ein Kind, übernahm die Versorgung der drei jüngeren Brüder und versuchte, die Mutter über den Verlust des Vaters so gut wie möglich hinwegzutrösten – für eine Neunjährige eine unmögliche Aufgabe.

Annas äußere Erscheinung ist gepflegt, sie wirkt dabei etwas verhärmt, wie ein Mensch, der sich selber nicht viel gönnt. Während unseres Gesprächs gehen ihre Augen unruhig hin und her, sie wirkt angespannt. Es fällt ihr schwer, über sich selbst zu sprechen. Sie macht den Eindruck, als wolle sie am liebsten gleich wieder weglaufen. Die Vorstellung, für sich selber Hilfe oder Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist ihr unangenehm. Eine Therapie zu beginnen, ist für sie nur unter dem Deckmantel „für andere“ möglich. Wir einigen uns darauf, dass sie zunächst vier Stunden „zur Probe“ zu mir kommt und danach entscheidet, ob sie sich auf einen längeren therapeutischen Prozess einlassen kann.

Körpertherapie – was ist das eigentlich?

Die Körper- oder Orgontherapie geht zurück auf die Erkenntnisse des Arztes Wilhelm Reich. Wir gehen dabei davon aus, daß allen psychischen und körperlichen Phä­nomenen ein natürliches Fließen von Lebensenergie, die Reich Orgonenergie nannte, zugrunde liegt. Unser Denken und Handeln, unser Bewußtsein und Gefühl und unsere körperliche Selbstwahrneh­mung sind unterschiedliche Ausdrucks­formen dieses energetischen Lebens­flusses. Psychische Konflikte füh­ren zu einer Einschränkung der Lebendig­keit des menschlichen Organismus, indem sie den Fluß dieser Lebensenergie im Körper herabsetzen. Äußerlich macht sich dies in muskulären Verspannungen be­merkbar, innerlich drückt es sich in einer Einschränkung der Pulsation des vegetati­ven Nervensystems aus: damit ist der Grundstein für das Entstehen von Krank­heit gelegt.

Krankheit entsteht als Folge der Störung der inneren oder äußeren Har­monie des Menschen. Mangelndes Selbstwertgefühl, unbefriedigende Part­nerschaft und Sexualität, Dissonanzen in der Familie, Streß am Arbeitsplatz sind nur einige Beispiele für Faktoren, die unbe­wußt zur Entstehung von Erkrankungen beitragen können. Die Krankheitssym­ptome haben dabei ihre eigene Aus­druckssprache. z. B. läuft uns „die Galle über“, es „verschlägt uns den Atem „, wir „kriegen kalte Füße“, haben „die Nase voll“, oder uns „wachsen graue Haare „.

In der Orgontherapie wird nun mittels verschiedener Techniken an der Auflösung energetischer und muskulärer Blockaden im Körper ge­arbeitet. Es fin­det also keine medikamentöse Symptom­bekämpfung statt, sondern man versucht, den Ursachen der Erkrankung auf die Spur zu kommen.

Drei verschiedene therapeutische Techniken

Drei verschiedene therapeutische Techniken haben sich dabei in meinen Augen als besonders wirkungsvoll zur Lösung energetischer Blockaden im Körper herausgestellt.

Die Kombination dieser Herangehensweisen ist die Besonderheit meiner Behandlungsart, mit der ich in der Praxis für Energetische Medizin seit über zwölf Jahren an dem Ziel der Verwirklichung einer neuen, ganzheitlichen Art von Medizin arbeite.

Eine dieser Techniken ist die am Wilhelm-Reich-Institut von Heiko Lassek aus den Reichschen Methoden weiterentwickelte Energetische Medizin. Diese Arbeit benutzt verschiedene körperliche Anspannungspositionen in Verbindung mit tiefer Atmung, um den Energiefluss im Körper zu mobilisieren. Dadurch treten im Körper autonome Bewegungen auf.

Diese Arbeit hat sich bei emotionalen wie auch bei somatischen Beschwerden als sehr wirkungsvoll herausgestellt, da jede Behandlung als vegetativer Reiz wirkt, der das autonome Nervensystem zur gesunden Pulsation anregt. Es wird mit dem Wechsel von hochenergetischer Ladung und Entladung des Körpers gearbeitet. Der Organismus, der sich in einem ungesunden Gleichgewichtszustand eingerichtet hat, wird stimuliert und „aufgeweckt“. Gleichzeitig ermöglicht diese Herangehensweise es, über nachfolgende sanfte Bahnung den Energiefluss im Körper gezielt zu lenken und zu richten. Dadurch kann vermieden werden, dass mobilisierte Energie das Krankheitssymptom „nährt“ und womöglich die Symptome verstärkt.

Der zweite Schwerpunkt meiner Arbeit ist die von Will Davis in der European Reichian School aus dem Reichschen Ansatz entwickelte „Points and Positions“ – Arbeit. Die körperlichen Anspannungsmuster und Blockaden werden hierbei durch gezielte Behandlung des Bindegewebes, der Faszien und Muskelansatzpunkte aufgelöst. Indem man den Körper in bestimmte, die verspannten Muskeln entlastende Positionen bringt, werden kontrahierte Bereiche schmerzlos entspannt. Diese Arbeit führt auf eine sanfte, wachstumsbetonte Art zur Anregung der Pulsationsvorgänge im Körper. Sie unterstützt insbesondere auch den Aspekt des Sich-Zentrierens, Sich-Sammelns und Nach-Innen-Gehens der Patienten wie in einer heilsamen Trance. Tiefe innere Prozesse werden aktiviert, die Einfluss auf körperliche, emotionale und psychische Vorgänge haben. Mit Hilfe dieser Technik ist es auch möglich, einzelne Blockaden im Körper sehr gezielt zu bearbeiten.

Der dritte Aspekt der Therapie legt das Hauptaugenmerk auf das Bewusstwerden und den Ausdruck derjenigen Gefühle, die vom Patienten in den muskulären Verspannungen „festgehalten“ werden. Angst, Wut und Trauer sind oft als verboten oder unangenehm erfahren und daher unterdrückt worden. Der Wiedererleben dieser Gefühle in der geschützten therapeutischen Situation wirkt oft sehr erlösend, da das Unterdrücken von Emotionen viel Kraft bindet. Gleichzeitig werden die Gefühle von Vertrauen, Freude und Lust wieder stärker erlebt. Neben der Verbesserung körperlicher und psychischer Symptome hat die Therapie häufig einen Wechsel in grundlegenden Lebens­bereichen zur Folge.

Annas Therapie

Anna hat einen gleichmäßigen Körperbau, die Muskeln sind insgesamt gut ausgeprägt, aber sehr angespannt. Ihre Augen sind kurzsichtig (-6 Dioptrien) und ruhelos. Augenkontakt fällt ihr schwer. Besondere verspannt sind das Kinn, das Hinterhaupt und die Schultern sowie die Muskeln entlang der Wirbelsäule. Ich interpretiere die muskulären Verspannungen als Ausdruck der inneren Anspannung und des Leistungsdrucks, unter dem Anna steht. Dies spürt sie vor allem an ihrer Arbeitsstelle. Sie soll dort ein Archiv umorganisieren und fühlt sich von dieser Aufgabe überfordert. Damit nicht genug, kritisiert sich Anna auch noch dafür, dass sie nicht besser und leistungsfähiger ist. Selbstkritik ist eine von Annas „Stärken“!

In den ersten vier Stunden arbeite ich mit Anna zunächst nur mit der Points and Positions-Arbeit, um ihr Körpergefühl zu verbessern, den Körper sanft zu mobilisieren und sie vor allem etwas zu entspannen. Danach sind die Augen etwas ruhiger, es kommt innere Bewegung in den Rücken und die Beine. Sie berichtet, nach einer Stunde energetischer Arbeit an den Beinen habe es in die Beine, das Herz und den Kopf zuhause noch mehrmals „wie der Blitz eingeschlagen“. Der Kopf fühlte sich danach viel freier an.

Anna möchte die Therapie fortsetzten, aber ihre Ängstlichkeit hat sie noch nicht überwunden. Zunächst legt sie sich nur für vier weitere Stunden fest. Dies ist zwar ungewöhnlich, ich gehe jedoch darauf ein, da ich merke, wie schwer dieser Schritt für sie ist.

Krankheit als „gesundes Zeichen“?

Das Ziel einer ersten Mobilisierung scheint erreicht zu sein, zumal sich an die vierte Stunde noch eine Art „Kurzgrippe“ mit Fieber für einen Tag anschließt. In der Reichschen Therapie sehen wir einen grippalen Infekt durchaus als positives Zeichen, vor allem, wenn der Klient schon seit langer Zeit keine Erkrankung mehr gehabt hat. Das Fieber zeigt an, dass der Organismus vegetativ in Bewegung kommt.

Das vegetative Nervensystem des Menschen, das die Tätigkeit der inneren Organe regelt, arbeitet nach dem Prinzip der Pulsation: Phasen von Anspannung und Entspannung, Aktivität und Ruhe wechseln sich idealerweise ab. Wenn diese „vegetative Pulsation“ chronisch gestört ist, z. B. durch chronischen Stress, kann der Körper mit Krankheit als einem „Ausbruchsversuche des Organismus aus der Starre“ reagieren. Es ist ein Versuch des Körpers, die Pulsation doch noch rudimentär aufrecht zu erhalten. Überschüssige Energie entlädt sich sozusagen in dem Krankheitssymptom, wenn auch nicht gerade auf optimale Weise.

Je nach Intensität der zugrunde liegenden Pulsationseinschränkung haben diese Krankheitsausbrüche verschiedene Ausprägungen – angefangen von Grippe, entzündlichen Erkrankungen, Asthma oder Darmerkrankungen über Hochdruckerkrankungen bis hin zu Leukämie und Krebs. Wird der Energiefluss im Körper und damit die vegetative Pulsation wieder angeregt, so entzieht man der Erkrankung den Nährboden.

Dies bedeutet eine völlig neue Bewertung von Gesundheit und Krankheit: ein Mensch, der jahrelang nicht krank war, kann zwar einfach kerngesund sein, er kann aber auch eine sogenannte „vegetative Reaktionsstarre“ aufweisen, auf deren Boden sich dann „aus dem Nichts“ plötzlich eine schwere Erkrankung wie z. B Krebs bilden kann. Derjenige, der jedes Jahr einen fieberhaften grippalen Infekt hat, kann daher gesünder sein als derjenige, der „nie krank gewesen“ ist.

Weiterer Therapieverlauf

In den nächsten Stunden arbeite ich mit Anna abwechselnd mit Orgontherapie und Points and Positions-Arbeit. Es stellt sich heraus, dass die Energie recht gut in die Arme fließen kann, es kommt dort in der orgontherapeutischen Arbeit spontan zu entladenden Schlagebewegungen. Die Rückenmuskulatur fühlt sich dagegen an wie Beton. Auch der Bauch und die Beine sind weiter sehr verspannt.

Anna klagt, dass sie schon viele Jahre unregelmäßigen Stuhlgang habe, ein Wechsel von Verstopfung und Durchfall mit schmerzhaften Blähungen. Auch hier zeigt sich wieder der Wechsel von vegetativer Starre (Verstopfung) und überschießender Entladung (Durchfälle). Verspannungen im Kopf- und Nackenbereich führten zu einem seit langer Zeit anhaltenden Tinnitus, einem ständigen Klingeln im linken Ohr, und öfter zu Kopfschmerzen.

Bei der Arbeit an den Augen stellt Anna fest, dass sie überhaupt nicht böse gucken kann. Dies ist Ausdruck ihrer tiefen Aggressionshemmung. Sie will ein ganz und gar guter Mensch sein. Das verträgt sich nicht mit Ärger oder „Nein“ sagen. Es führt aber auch dazu, dass sie sich ständig überfordert. Bevor sie nicht lernt, sich den unterdrückten Aggressionen zu nähern und sie in der geschützten therapeutischen Situation zum Ausdruck zu bringen, wird sie sich im sonstigen Leben schwer abgrenzen können.

Die orgontherapeutische Arbeit bringt Annas Körper zu allen möglichen ungewohnten Reaktionen. Manchmal ist ihr die Energie zuviel, dann kann sie nächtelang nicht schlafen. Manchmal sucht der Körper sich andere Entladungswege, so dass alte Symptome, bei Anna ist es eine Gürtelrose, für kurze Zeit wieder auftauchen können. Dann wieder macht sie eine Angina durch, die sie selber als „lösend“ empfindet. Im Laufe der Arbeit lassen diese überschießenden Reaktionen nach. Es ist auch zu beobachten, dass Annas Starre in den Beinen sich auflöst und Entladungen über autonome Beinbewegungen möglich werden. Insgesamt kann sie jetzt mehr Energie aufnehmen und aushalten, was subjektiv zu einem Gefühl von mehr Kraft und Stärke führt.

Ende des Jahres stellt Anna fest, dass ihr räumliches Vorstellungsvermögen als Folge der Augenarbeit besser geworden ist. Auf der Arbeit kann sie sich jetzt schon besser konzentrieren. Auch kann sie Kontakte zu anderen Menschen jetzt besser aushalten, muss nicht mehr „ganz schnell weglaufen“. Zur Therapie kommt sie inzwischen regelmäßig. Das Ohrgeräusch beginnt aber ab Februar 1995 manchmal für mehrere Tage ganz zu verschwinden. Anna erkennt, dass das Klingeln nachlässt, wenn sie weniger unter Druck steht.

Im April 1995 erzählt mir Anna, dass ein für sie essentielles Gefühl des „Nicht-Dazugehörens“ weit in ihre Kindheit zurückreichende Wurzeln hat. Da sie als einzige in der Familie dunkle Haare hatte, sagte der Vater öfter halb scherzhaft „Du gehörst nicht zu uns, Du bist ein Zigeunerkind“. Dies hat sich ihr tief eingegraben. Ihre Mutter dagegen war nicht belastbar, Anna versuchte sie immer aufzuheitern. Dabei blieb bei Anna das Gefühl zurück, anderen zur Last zu fallen. Bei dieser Erinnerung beginnt sie erstmals in der Therapie leise zu weinen, denn sie „will niemanden belasten“. Daher muss sie ihre eigenen Bedürfnisse unterdrücken.

Da sie sich von klein auf für die Familie zuständig fühlte, hat sie nie gelernt, eigene Wünsche zu entwickeln. Das Kümmern um andere ist ihr Lebensinhalt und Selbstideal geworden. An ihrer Arbeitsstelle ist sie oft bis 8 oder 9 Uhr abends. Sie fragt mich ganz ernsthaft, warum sie denn lernen solle, was ihr Spaß macht.

Es ist ihr schwer zu vermitteln, dass ihre ständige Aufopferung und Selbstaufgabe der Grund für ihre körperlichen und psychischen Beschwerden sein könnten, und dass ein Stück Lebensfreude bestimmt niemandem schadet. Wir haben offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen vom Sinn des Lebens – sie meint, nur durch völlige Selbstaufgabe ein guter Mensch sein zu können, ich dagegen meine, dass man nur für andere da sein kann, wenn man zuerst gut für sich selber gesorgt hat: „erst Eigenrettung, dann Fremdrettung“ heißt es in der Ausbildung in Erster Hilfe. Dies ist Annas kirchlich geprägtem Ideal zuwider, lieber trägt sie die Lasten anderer – und handelt sich damit einen harten Rücken und Kopfschmerzen ein.

Anna hat viel praktisches Geschick, kann die Dinge gut „anpacken“. „Wenn’s drauf ankommt, kann ich alles“, sagt sie.

Es fällt Anna schwer, von sich selbst zu reden, für andere hat sie aber schnell einen Rat oder eine Lösung parat. Ihr Kümmern um andere führt dann leicht dazu, dass sie sich bei anderen, wie sie es nennt, „einmischt“. Der Weg zwischen selbstloser Nächstenliebe und manipulativem Helfersyndrom ist schmal. Im Herbst 1995 kommt sie plötzlich mit einem Blumenstrauß in die Praxis und sagt: „In der letzten Stunde habe ich wirklich begriffen, dass ich mich gar nicht immer einmischen muss. Ich kann die anderen die Dinge auf ihre eigene Art erledigen lassen, ohne gleich eine Grundsatzdiskussion über jede Kleinigkeit zu führen“.

Anna merkt von sich aus, dass das Helfen dazu dient, eigene innere Leere zu verdecken und daher nicht dem Überfluss, sondern dem Mangel entspringt. Das Helfen macht wichtig! Anna beginnt, die kirchliche Erziehung zum Nur-gut-sein anzuzweifeln. Ihre Zweifel an kirchlichen Dogmen mehren sich und sie beginnt, in kleinen Schritten mehr für sich selbst zu tun. Dazu muss sie regelrecht trainieren, ihre eigenen Wünsche wahrzunehmen und zu äußern.

Auf der Arbeitsstelle gelingt es Anna, erste Grenzen zu ziehen. Sie trennt berufliche und private Erledigungen und schafft es, den Arbeitstag auf acht Stunden zu begrenzen. Damit taucht nun aber das Problem auf, wie sie ihre Freizeit füllen soll! Helfen hilft eben auch dabei, vor sich selber auszuweichen. Es fällt ihr weiter schwer, sich selbst etwas zu gönnen. Offenbar fällt auch die Therapie darunter, die sie immer wieder einmal ganz bald beenden möchte.

Da Anna sich jetzt schon besser konzentrieren kann, beginnt sie, abends Musik zu hören oder zu lesen. Wenn sie mal nicht weiter weiß, traut sie sich jetzt auch, jemanden um Rat zu fragen. Sie gesteht sich auch schon mal ein, daß sie einige der Dinge, für die sie sich manchmal vorschnell anbietet, eigentlich nicht tun will. Ablehnen fällt ihr aber trotzdem noch schwer.

<p“>Dafür ist der menschliche Kontakt in Gruppen zunehmend besser. Bei der Silberhochzeit der Schwester fühlt sie sich viel weniger verklemmt und muss sich weniger „einmischen“. Anna möchte noch mehr lernen, sich auszudrücken. Sie merkt selber, wie ihr die Worte im wahrsten Sinne „im Halse stecken bleiben“. Wir arbeiten deshalb daran, Verspannungen im Halsbereich durch sanfte Arbeit aufzulösen.

Dazu bitte ich Anna, verschiedene Töne wie beim Singen zu machen und deren Resonanz mit anderen Körperteilen zu spüren. Dies löst bei ihr zunächst heftigen Würgereiz aus. Dadurch löst sich die Verspannung in der Kehle etwas, der Kopf fühlt sich mehr mit dem Körper verbunden an und die Töne gelingen Anna schon viel besser.

Beim Versuch, die „Augen zu besingen“, d. h. den Ton wie durch die Augen nach außen zu schicken, spürt Anna plötzlich starke Angst. Sie sagt, dass sie zwar Angst vor Menschen kenne, aber keine Angst vor Dunkelheit oder ähnlichen Dingen, vor denen sich jeder andere fürchtet. Da in der Kindheit kein Schutz für sie da war, hat sie die Angst einfach verdrängt und sich furchtlos gegeben. Beim Satz „es ist in Ordnung, Angst zu haben“ muss Anna vor Erleichterung weinen. Es ist schon ganz schön anstrengend, nie ängstlich sein zu dürfen!

Nach der Stunde taucht vor Annas innerem Auge spontan eine längst vergessene Szene aus der Kindheit wieder auf: als Anna etwa 10 Jahre alt war, warf die Mutter mit einem Messer nach ihr, da sie sich wieder mal „eingemischt“ hatte. Helfen schien die einzige Möglichkeit zu sein, sich etwas Anerkennung zu verschaffen.

Die energetische Arbeit im Kopfbereich führt dazu, dass der Kopf klarer wird und die Konzentrationsfähigkeit weiter zunimmt. Die Kopfschmerzen werden seltener. Mit der Lösung von Verspannungen im Rückenbereich wird der Energiefluss im Körper im einheitlicher. Bei der energetischen Hochladungsarbeit können jetzt Arme und Beine im Wechsel Energie aufnehmen und in autonomen Bewegungen wieder entladen. Die Entladungen werden dabei „feinschlägiger“, als ob der Körper feinere „Entladungskanäle“ für Energie in die Peripherie gebaut hat.

Annas Augen haben sich im Laufe der Therapie sehr verändert. Das unruhige Hin- und Herschauen vom Beginn der Therapie ist verschwunden. Sie kann jetzt Gefühle in den Augen ausdrücken. Wenn sie will, kann sie sogar richtig böse gucken! Ruhiger Augenkontakt, dessen Dauer sie selbst bestimmt, löst Verspannungen im Bauch. Die vorher kontinuierlich zunehmende Kurzsichtigkeit hat sich seit Beginn der Therapie stabilisiert. Eine beginnende Netzhautablösung ist zum Stillstand gekommen. Das ganze Gesicht ist inzwischen viel weicher geworden und hat das verhärmte Aussehen verloren.

Im Sommer 1996 beschäftigt sich Anna mit dem Konzept des „inneren Kindes“ und bittet mich, ihr beim Zwiegespräch mit diesem Kind behilflich zu sein. Dabei bestätigt sich, dass sie schon sehr früh in die Mutterrolle geschlüpft ist. Anna ist sozusagen nie wirklich Kind gewesen. In der Mutterrolle versucht sie dann, andere glücklich zu machen, kann dabei aber nicht selber glücklich werden. Die innere Leere und Einsamkeit wehrt sie ab und sagt sich „ich brauche niemanden“. Sie gibt den anderen, was sie sich eigentlich selber wünscht. Anna merkt, dass sie noch ein Stück Kindsein nachholen muss und dass ihr „inneres Kind“ viel Zuwendung braucht. Nach der Stunde kauft sie dem „Kind“ gleich einen Teddybären!

Der Therapieabschluß

Im August 1996 beendet Anna nach zwei Jahren die Therapie. Sie fühlt sich unter Menschen zunehmend wohler, redet lauter und freier, kann sich besser konzentrieren und spürt auf der Arbeitsstelle keinen Zeitdruck mehr. Der Stuhlgang ist gleichmäßiger geworden und hat das Beängstigende verloren. Das Klingeln im Ohr ist zeitweise völlig verschwunden, und die Kopfschmerzen sind selten geworden. Anna beginnt, ihr Leben selber zu strukturieren. Die Saat von Selbstliebe als Grundlage für Selbstvertrauen und Nächstenliebe ist inzwischen auf fruchtbaren Boden gefallen. Nur wer für sich selbst gut sorgen kann, kann von Herzen etwas für andere tun – nicht um die eigene innere Leere zu verdecken, sondern um die innere Fülle auszudrücken.

Nicht umsonst heißt es: „Liebe Deinen Nächsten WIE DICH SELBST“!

Anna schließt nicht aus, dass sie nach einer Pause die Therapie noch fortsetzen möchte. Schließlich möchte sie ihre Spontanität und ihr Selbstvertrauen noch etwas weiter entwickeln.

Sie hat aber in kurzer Zeit für sich selbst so viele neue Erfahrungen gemacht und Einsichten gewonnen, dass sie diese erst einmal weiter in ihrem Leben umsetzen möchte. Auch ich finde, dass Anna in den vergangenen zwei Jahren Riesenschritte gemacht hat. Ich bin sicher, dass Anna weit davon entfernt ist, ein egoistischer und selbstsüchtiger Mensch zu werden. Sie hat lediglich gelernt, ein bisschen besser für den Menschen zu sorgen, der ihr am nächsten steht – sie selbst.